Eine etwas andere Geschichte (für die Erwachsenen)

 

Wer glaubt noch an den Weihnachtsmann?

 

Er muss schon ein ziemlich toller Kerl sein - wenn es ihn tatsächlich gibt. Er beschenkt 378 Millionen Kinder in 31 Stunden. Rast mit 1075 Kilometer pro Sekunde im Schlitten um die Welt. Ist das überhaupt möglich? Mathematiker äussern Zweifel...

Zugegeben: Mit sechs kamen auch mir die ersten Zweifel. Als der Weihnachtsmann in unserem Haus die Treppe hochstieg, stolperte er über seinen langen roten Mantel. Er verlor dabei seinen Bart, und der Alte im Kapuzenrock war enttarnt: Es war Onkel Willy, unser Nachbar.

Der Weihnachtsmann - nichts als eine einzige Lüge? Geahnt hatte ich's schon immer. Wie, um Himmels Willen, konnte es Santa Claus in einer einzigen Nacht schaffen, Millionen artiger Kinder zu beschenken? Wurden wir etwa jahrelang belogen? Und wer steckte hinter dieser Verschwörung? Unsere Eltern?

Studenten der Naturwissenschaften wollten jetzt endgültige Klarheiten schaffen. An Universitäten und Hochschulen in Paderborn, Saarbrücken, Stuttgart, Darmstadt, Dortmund, Giessen, Dresden, Bochum und anderswo liefen die Rechner heiss. Das Ergebnis, so es stimmen sollte, bestätigt meine schlimmsten Vermutungen: Den Weihnachtsmann kann es nach menschlichem Ermessen nicht geben. Der dicke Schlittenkutscher mit weissem Bart und roter Nase schleicht gar nicht um unsere Häuser!

Etwa zwei Milliarden Kinder (Menschen unter 18 Jahren) leben derzeit auf der Erde. Da der Weihnachtsmann Nichtchristen - unfairerweise - nicht beschenkt, reduziert sich seine Klientel auf etwa 19 Prozent aller Mädchen und Jungen. Die Kundenkartei des Rotrocks schrumpft somit auf die lächerliche Zahl von 378 Millionen Kinder.

Der Weihnachtsmann, der in Lappland oder am Nordpol sein Domizil aufgeschlagen haben soll, müsste trotz seines hohen Alters ein fixer Kerl sein. Schliesslich warten in etwa 92 Millionen christlichen Haushalten brave Kinder auf ihre Geschenke. Angenommen, Santa Claus reiste durch die verschiedenen Zeitzonen von Osten nach Westen, stünde ihm ein 31-Stunden-Tag zur Verfügung. Dabei käme er ganz schön aus der Puste: Pro Sekunde hätte er etwa 823 Besuche zu bewältigen. Wohl deshalb hat bislang keiner den echten Weihnachtsmann je zu Gesicht bekommen.

Der Alte steht enorm unter Zeitdruck. Um seinen weltumfassenden Vertrieb bewältigen zu können, müsste er jedes auch noch so brave Kind innerhalb von einer Tausendstel Sekunde abfertigen. In dieser Zeit muss er zudem Parken, aus dem Schlitten springen, ins Wohnzimmer eilen, Äpfel, Nüsse, Bücher und Spielzeug unterm Weihnachtsbaum verteilen, die Reste des Weihnachtsessens vertilgen, sich wieder auf seinen Schlitten schwingen und zum nächsten Haus fliegen. In Amerika und England rutscht er auch noch durch den Schornstein. Wie der Dicke da durchpasst, ist bis heute nicht geklärt. Wäre jeder der 92 Millionen christlichen Haushalte gleichmässig auf der Erde verteilt, hätte der Weihnachtsmann innerhalb von 31 Stunden die unglaubliche Strecke von etwa 120 Millionen Kilometern zurückzulegen. Nicht mit eingerechnet die Unterbrechungen, die auch ein Weihnachtsmann für sich einkalkulieren müsste. Für das Essen und ab und zu mal eine Pinkelpause. An Schlaf ist dabei nicht zu denken, ans Zähneputzen auch nicht. Was in seinem Fall allerdings ruhig ausfallen darf. Denn wir können davon ausgehen, dass der Alte, wenn es ihn denn gibt, Gebissträger sein dürfte.

Ginge es nämlich nach dem Kunstmaler Moritz von Schwind (1804 bis 1871), würden ohnehin längst Greisenhände die Kleinen bescheren. Schon 1847 hatte der Wiener Spätromantiker für die "Münchner Bilderbogen" einen gewissen "Herrn Winter" gezeichnet. Die untersetzte Figur mit Kapuzenmantel, hohen Stiefeln, langem weissem Bart und einem Kerzenbäumchen unterm Arm gilt bis heute als der Prototyp des typischen deutschen Weihnachtsmannes. Mit seinen biblischen Lenzen (151 Jahre plus x) wäre Schwinds Santa Claus somit der älteste Astronaut aller Zeiten und nicht, wie uns kürzlich weisgemacht wurde, der 77jährige US-Senator John Glenn. Auch in Amerika hätte Santa Claus sicherlich längst Haarausfall: Bereits 1823 dichtete uns Clement Moore die schönen Weihnachtsreime vom Weihnachtsmann an. Moores Mann trug einen roten Mantel und einen weissen Bart. Er lebte am Nordpol und hatte acht Rentiere durchzufüttern. Das kleine Rudel, das weiss jedes Kind, zieht bekanntlich den Schlitten mit den vielen Geschenken. Aber auch das kann nicht stimmen.

Nach den Berechnungen der Studenten müssten der Weihnachtsmann und seine gehörnten Gefährten mit der unglaublichen Geschwindigkeit von etwa 1075 Kilometern pro Sekunde von Haus zu Haus rasen. Das wäre immerhin die 3000fache Schallgeschwindigkeit. Zum Vergleich: Die Erde umkreist die Sonne mit dreissig Sachen pro Sekunde. Die Raumsonde "Ulysses" zur Erforschung der Sonnenpole schafft im selben Moment gerade mal 11,3 Kilometer.

Ein gewöhnliches Rentier legt im Schnitt bei Dauerbelastung schlappe 25 Kilometer zurück - in einer Stunde. Der Weihnachtsmann müsste demnach eine bislang unbekannte Spezies der Gattung Ren im Stall haben. Bislang gibt es auf der Erde zwar etwa 300 000 bislang noch nicht klassifizierte Lebewesen. Dabei handelt es sich aber überwiegend um Insekten. Fliegende Rentiere kann bislang also nur der Weihnachtsmann gesehen haben.

Kommen wir zum Schlitten. Angenommen, jedes Kind darf Weihnachten im Schnitt ein Kilo auspacken - in etwa ein kleines Lego-Set, dazu ein Paar Wollsocken oder eine Mini-Puppe -, hätte der Schlitten ohne den meist als übergewichtig beschriebenen Weihnachtsmann 378 000 Tonnen geladen. Fest steht, dass ein gewöhnliches Rentier höchstens etwa 175 Kilo ziehen kann. Selbst bei der grosszügigen Annahme, dass ein so genanntes "fliegendes Rentier" das Zehnfache an Zugkraft leisten kann, gilt als gesichert, dass der Weihnachtsmann nicht mit acht Rentieren unterwegs sein kann, sondern mit wenigstens 216 000. Somit würde die fliegende Spedition mindestens 410 000 Tonnen wiegen. Soviel wie 402 000 so genannte "Elche" der A-Klasse von Mercedes, 5256 ICE-Loks oder vier Exemplare des Luxus-Liners "Queen Elizabeth". Bei einer Geschwindigkeit von 1075 Kilometern pro Sekunde erzeugen 410 000 Tonnen natürlich einen ungeheuren Luftwiderstand. Das hält kein Tier aus: Es würde wie ein in die Atmosphäre eintretendes Raumschiff aufgeheizt. Das vorderste Rentier-Paar, so die Berechnungen der studentischen Experten, müsste pro Sekunde und Tier stolze 16,6 Trillionen Joule oder 22,1 Gigawatt absorbieren. Die beiden Paarhufer würden augenblicklich verglühen. Der Rest des Riesen-Rudels ginge innerhalb von fünf Tausendstel Sekunden und mit einem ohrenbetäubenden Knall in Flammen auf. Auch der Weihnachtsmann käme dabei unter die Kufen. Er wäre auf seiner Reise fortwährend der 17‘500-fachen Erdbeschleunigung ausgesetzt. Bei einem angenommen Minimalgewicht von 120 Kilo - und das ist sehr freundlich gerechnet - würde der bärtige Dicke mit einer Kraft von 20,6 Millionen Newton (2,06 Kilotonnen) an das Ende seines Schlittens genagelt.

Hätte der Weihnachtsmann diese Odyssee dennoch überlebt, müsste ihn zumindest ein schweres Schleudertrauma plagen. Aber das sollte bis Weihnachten wieder behoben sein. Ein bisschen Hoffnung bleibt: Auch, wenn logisch erscheint, dass der Weihnachtsmann sein Mammut-Programm nicht in 31 Stunden abspulen kann, so wissen wir doch alle, dass der schlaue Alte sein Festtagsprogramm auf hundert Tage ausgedehnt hat. Jeder, der ab Oktober schon mal ein Kaufhaus betreten hat, kann sehen, dass der Weihnachtsmann längst aktiv ist. Die Geschenke sind bereits vor Ort, die Transportprobleme somit gemindert. Und das ist schon die halbe Miete.